Seminar für Indologie und Tibetologie
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Die Geschichte der Fächer Indologie und Tibetologie an der Universität Göttingen

Als Georg Heinrich August Ewald (1803-1875) im Wintersemester 1826/27 eine Vorlesung zum Thema "Über die Sanskrit-Sprache und Literatur" hielt, sollte er damit die Tradition der indologischen Lehre und Forschung an der Universität Göttingen begründen. Damit war die Georgia Augusta zur vierten Universität in Deutschland geworden, an der Sanskrit als eine der bedeutendsten Kultursprachen Asiens gelehrt wurde.


Während Ewald für den Gesamtbereich der Orientalistik zuständig war, war Theodor Benfey (1809-1881) der erste Vertreter des Faches Indologie als nunmehr selbständiger Disziplin in Göttingen, wo er seit 1834 als Privatdozent und von 1848 bis zu seinem Tode als Professor der Sanskrit-Philologie wirkte. Durch seine Arbeiten über die indische Erzählungsliteratur, allen voran das Pañcatantra, wurde Benfey zum Begründer der vergleichenden Märchenforschung. Zwar ist der Wert seines "Pantschatantra: Fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen" (Leipzig 1859) bleibend, da es ihm gelang, die Quellen vieler der Erzählungen dieses Textes nachzuweisen und ihre Verbreitung(sgeschichte) nachzuzeichnen, doch sind heute die darin vertretenen theoretischen Positionen und sein methodischer Ansatz weitestgehend überholt. Gleichwohl ist die von ihm propagierte Wanderungstheorie, die heute unter dem Namen "Indische Theorie" firmiert, durch die geographisch-historische Methode der Finnischen Schule (Antti Aaarne, Stith Thompson) einflußreich geblieben. Mit seinem zweiten wichtigen Arbeitsgebiet etablierte Benfey die Veda-Forschung in Göttingen. Hier trat er durch die erste Ausgabe und Übersetzung des Sāmaveda (1848), durch seine "Vollständige Grammatik der Sanskritsprache" (1852-54) und durch die "Grammatik der vedischen Sprache" (1874) hervor. Letztere ist zwar unvollendet geblieben, doch veröffentlichte Benfey eine ganze Reihe wichtiger Vorarbeiten. In seiner "Vollständigen Grammatik" hat Benfey ausgiebigen Gebrauch von der Beschreibung des Sanskrits seitens Pāṇini gemacht, von dessen grammatischem System er eine ausführliche Darstellung auch in seiner "Geschichte der Sprachwissenschaft und Orientalischen Philologie in Deutschland" (München 1869) gab.


Benfeys Beschäftigung mit der einheimisch-indischen Grammatik führte Franz Kielhorn (1840-1908) fort, der 1881 als sein Nachfolger nach Göttingen berufen wurde. Kielhorn, ein Schüler Stenzlers, war von England, wo er mit Monier-Williams und Max Müller arbeitete, an das Deccan College in Poona gewechselt. Dort war er von 1866 bis 1881 als Professor des Sanskrit tätig. Im Auftrage der indischen Regierung arbeitete er eine Sanskrit-Grammatik aus, die ganz auf Pāṇinis Aṣṭādhyāyī fußt. In der so schwierigen und komplexen einheimisch-indischen Grammatik war Kielhorn von indischen Paṇḍits ausgebildet worden, nachdem er sich die Grundlagen bereits in Europa erworben hatte. Und auf diesem Gebiet entfaltete er seine ganze philologische Meisterschaft.
Bis heute sind seine Textausgaben (Mahābhāṣya, Paribhāṣenduśekhara), Übersetzungen (Paribhāṣenduśekhara) und Untersuchungen, in einem strengen, fast lakonischen Stil verfaßt, unübertroffen. Im Zusammenwirken mit Georg Bühler, einem Göttinger Schüler Benfeys, leitete er eine neue Epoche der Sanskrit-Philologie ein, gegründet auf genauester Sprachkenntnis, aller Spekulation abhold und gekennzeichnet durch Zusammenarbeit historisch und philologisch geschulter westlicher und in der gelehrten Überlieferung ihrer heiligen Sprache tief verwurzelter indischer Wissenschaft. Als Kielhorn 1881 nach Göttingen berufen wurde, trat mit der Epigraphik ein zweites Arbeitsgebiet an die Seite der Erforschung der indischen Grammatik. Und auch auf ihm leistete er Herausragendes und legte bleibende Grundlagen für alle zukünftige Forschung: Seine Ausgaben von über 150 Inschriften sind endgültige, und ihre Datierung und Erklärung kaum je zu beanstanden.
Kielhorns epigraphische Arbeit wurde von seinem Schüler Heinrich Lüders (1869-1943), der 1894 mit einer Arbeit über die indische Phonetik promoviert wurde, sich 1899 mit seiner Untersuchung "Über die Grantharecension des Mahabharata" habilitierte und von da an bis 1903 als Privatdozent in Göttingen lehrte, in ähnlich kompetenter Weise fortgeführt. Mit Bernhard Geiger, der sich 1909 in Göttingen mit einer Arbeit zu Patañjalis Mahābhāṣya habilitierte, bildete er auch einen Schüler auf dem Gebiet der indischen Grammatik aus.


Kielhorns Nachfolger auf dem Lehrstuhl der Göttinger Indologie wurde 1908 Hermann Oldenberg (1854-1920), vorher seit 1889 Professor in Kiel. Mit ihm wurde die Buddhismusforschung in Göttingen heimisch, deren moderne Ausprägung er mit der Veröffentlichung seines "Buddha: Sein Leben, Seine Lehre, Seine Gemeinde" im Jahre 1881 – ein in glänzendem Stil verfaßtes Meisterwerk des 27-Jährigen – erst eigentlich begründete. In Textausgaben, Übersetzungen und tiefschürfenden Detailuntersuchungen deckte er das ganze Feld der wissenschaftlichen Erschließung dieser Religion ab. Viel von dem, was er hier veröffentlichte, bildete die Grundlage späterer Forschung und hat seinen Wert bis heute behalten. Dies gilt auch für seine meisterhaften stilistischen Untersuchungen buddhistischer Texte, die zugleich eine Schichtung in ältere und jüngere Bestandteile leisteten.
Mit seinem zweiten Hauptarbeitsgebiet, der Veda-Forschung, führte Oldenberg die von Benfey begründete Göttinger Tradition fort. Seine Arbeiten auf dem Gebiet der vedischen Philologie bedeuteten vor allem für den Rgveda einen immensen Erkenntnisfortschritt. In minutiösen Einzeluntersuchungen führte er diesen so schwierigen ältesten Text der vedisch-brahmanischen Überlieferung einem Verständnis entgegen. Doch auch zu den Brāhmaṇas und Upaniṣads veröffentlichte Oldenberg ganz wesentliche Beiträge.
Ein drittes Arbeitsfeld, auf dem Oldenberg erfolgreich tätig war, ist die Erforschung des Mahābhārata, des einen der beiden großen altindischen Epen. Oldenbergs Feinfühligkeit für stilistische Details befähigte ihn wie keinen anderen zur Untersuchung des Erzählstils dieses Textes und seiner geschichtlichen Einordnung.


Emil Sieg (1866-1951), Schüler (u.a.) von Oldenberg und Kielhorn, übernahm nach Oldenbergs Tod im Jahre 1920 den Lehrstuhl für Indologie. Er knüpfte mit seinen grammatischen, vedistischen und epischen Arbeiten an Göttinger Traditionen an. Besonders wichtig aber sollte werden, daß er sich, bereits zu seiner Berliner Zeit, an der Entzifferung der zentralasiatischen Handschriftenfunde beteiligte. Galten seine ersten diesbezüglichen Arbeiten grammatischen Texten aus Ost-Turkestan, wandte er sich später der Erforschung des Tocharischen zu, einer von ihm als indogermanisch erwiesenen Sprache. Der buddhistische Inhalt der Texte stärkte den buddhologischen Schwerpunkt der Göttinger Indologie. War seit 1928 Siegs Hauptarbeitsgebiet eher an der Peripherie der Indologie angesiedelt, bildete er (u.a.) mit Friedrich Weinreich und Paul Thieme Schüler aus, die auf Gebieten der Vedistik, einheimischen Grammatik und Epos-Forschung arbeiteten. Besonders Thiemes Promotions- und Habilitationsschrift, "Das Plusquamperfektum im Veda" (1928) resp. "Pāṇini and the Veda" (1932 / 1935), zeugen von der hohen Qualität der Lehre Siegs.


In die Amtszeit von Sieg fällt die Honorarprofessur (seit 1923) von Richard Friedrich Fick (1867-1944), Direktor der Göttinger Universitätsbibliothek von 1921 bis 1932. Aus seiner Feder stammt unter anderem die bekannte Abhandlung über die soziale Gliederung im nordöstlichen Indien zu Buddhas Zeit sowie kulturgeschichtliche und bibliothekswissenschaftliche Veröffentlichungen.


Mit der Berufung des Sieg-Schülers Ernst Waldschmidt (1897-1985) auf den Göttinger Lehrstuhl im Jahre 1936 wurde die "Turfan-Forschung" fortgesetzt, indes von der Tocharistik auf das Gebiet der Indologie verlagert. Damit war nun nicht mehr Berlin das Zentrum der Erforschung der Turfan-Handschriften, wo Pischel die Arbeit daran begonnen und sie Lüders so meisterhaft fortgesetzt hatte, sondern Göttingen. Waldschmidts Textausgaben, Abhandlungen und vergleichende Untersuchungen förderten die Kenntnis der orginalsprachlichen Literatur verschiedener Schulen des Śrāvakayāna ganz wesentlich. Für diese Aufgabe war er durch seine glänzende Kenntnis der Sprachen, derer sich diese Schulen bedienten, wohlgerüstet.
Mit der Ausbildung einer großen Zahl von Schülern, die ihre Arbeiten nach den von Waldschmidt entwickelten Editionsprinzipien überwiegend in der von ihm ins Leben gerufenen Reihe "Sanskrittexte aus den Turfanfunden" veröffentlichten, und der Beteiligung an bzw. Gründung zweier Forschungsprojekte, einmal den "Sanskrittexte(n) aus den Turfanfunden" (als Teil der "Katalogisierung der orientalischen Handschriften in Deutschland"), sodann dem "Sanskrit-Wörterbuch der buddhistischen Texte aus den Turfan-Funden", wurde Göttingen zu einem wichtigen Zentrum der Erforschung buddhistischer Literatur.
Ehe Waldschmidt nach Göttingen wechselte, war er Kustos und Professor am "Museum für Völkerkunde" in Berlin. Die Arbeit mit den Kunstgegenständen der Turfan-Sammlung ließ die Erforschung der zentralasiatischen und indischen Kunst und ihrer Geschichte zu seinem zweiten bedeutenden Arbeitsgebiet werden. Hier fand er in seiner Gattin Rose-Leonore Waldschmidt eine kongeniale Mitarbeiterin, mit der er zusammen umfangreich publizierte.
Zu erwähnen bleibt, daß Waldschmidt im Jahre 1957 sein Wohnhaus in der Hainbundstraße 21 der Universität Göttingen als dauernde Heimstätte der Indologie stiftete. Ähnlich großzügig und weitsichtig zeigte er sich mit der Gründung der in Berlin angesiedelten Waldschmidt-Stiftung, die (u.a.) die Veröffentlichung der Serie "Monographien zur indischen Archäologie, Philologie und Kunst" trägt.


Mit Heinz Bechert (1932-2005), der von 1965 bis 2000 Inhaber des indologischen Lehrstuhls war, wurde die Buddhismuskunde endgültig zum Lehr- und Forschungsschwerpunkt der Göttinger Indologie, was sich auch in der 1971 erfolgten Umbenennung des ehemaligen "Indologischen Seminars" in "Seminar für Indologie und Buddhismuskunde" ausdrückte. Auch der geographische Fokus wurde durch Einbeziehung Sri Lankas und ganz Südostasiens beträchtlich erweitert und die bislang primär rein philologische Erforschung des Buddhismus durch eine religionsgeschichtliche ergänzt.


In die Amtszeit von Waldschmidt und Bechert fällt die Tätigkeit von Dr. Gustav Roth (1916-2008) am Seminar, der dort seit 1959 bis zu seinem Ruhestand 1981 lehrte, um dann (bis 1985) an den Nava Nalanda Mahavihara (Bihar) als dessen Direktor zu wechseln. Hauptarbeitsgebiet von Dr. Roth war die Erschließung buddhistischer Sanskrittexte. Besondere Erwähnung verdient seine meisterhafte Edition der zur Sāṅkṛtyāyana-Sammlung gehörenden Handschrift des Bhikkhunī-Vinaya der Mahāsāṃghika Lokottaravādins.

 

 


Die seit je in Göttingen heimische Arbeit mit buddhistischen Texten brachte eine intensive Beschäftigung mit tibetischer Übersetzungsliteratur mit sich. Dieser Schwerpunkt führte schließlich zur Einrichtung eines selbständigen Studienganges Tibetologie, zuerst als Neben-, dann als Hauptfach. Vertreten in Forschung und Lehre wurde die Tibetologie am Seminar durch Claus Vogel, zuerst als Lehrbeauftragter, dann seit 1989 als Honorarprofessor für tibetische Sprache und Literatur an der Universität Göttingen, durch Jens-Uwe Hartmann (bis zu seiner Berufung auf eine Professur für Tibetologie an der Humboldt-Universität im Jahre 1995), und durch Champa Thupten Zongtse, von 1968 bis 1998 als Lektor für tibetische Sprache und Literatur tätig.