Pāli
Pāli ist die Sprache der kanonischen und post- und parakanonischen Texte des Theravāda-Buddhismus. Wenn dort allerdings von der eigenen Sprache die Rede ist, wird sie Māgadhī genannt, während sich der Name Pāli wohl erst im 17. Jahrhundert einbürgerte. Pāli gehört mit (u.a.) den Sprachen der Inschriften König Aśokas, mit Ardhamāgadhī, Jaina-Mahārāṣṭri und Śaurasenī zu den (sog.) mittelindischen Sprachen, den Prākṛt (Prakrits), die sich - wie das Sanskrit auch - aus dem Vedischen Sanskrit (bzw. einem seiner Dialekte) entwickelt haben, und hat teil an deren allgemeiner Entwicklung: Ersetzung von vokalischem r durch a, i oder u (je nach lautlicher Umgebung), Zwei-Moren-Gesetz (Kürzung langer Vokale vor folgender Doppel- oder Dreifach-Konsonanz), Monophthongisierung der Diphthonge (e < ai, o < au), Abfall aller auslautenden Konsonanten (mit Ausnahme von anusvāra), Zusammenfall der drei Sibilanten in nur einem (im Pāli -s-), Assimilation von Gruppen unähnlicher Konsonanten (-tt- < -kt-, -mm- < -rm-, -tth- < -sth- etc.) oder deren Aufspaltung durch eingeschaltete Vokale (-jir- < -jr-, -sum- < -sm- etc.), Aufgabe des Duals, fast durchgehende Vertretung des Dativs durch den Genitiv, Zurücktreten des ātmanepada gegenüber dem parasmaipada, Zusammenfall der verschiedenen Vergangenheitstempora in einem Präteritum (usw.). Zusammen mit den Aśoka-Prakrits und der Ardhamāgadhī, der Sprache der Texte des jainistischen Kanons, bildet es das älteste Mittelindische. Daß das Pāli aber - trotz gegenteiliger Behauptung der Theravāda-Tradition - nicht die Sprache gewesen ist, derer sich Buddha bediente, zeigt allein der Umstand, daß wir für diese einen östlichen Dialekt erwarten, während bestimmte Merkmale das Pāli dem Westen Indiens zuweisen, von wo es mit dem sich ausbreitenden Buddhismus nach Südindien, Sri Lanka und Südostasien gekommen ist. Dem von Buddha verwendeten Idiom, das uns jedoch auf immer unbekannt bleiben wird, kommen wir mit den Spuren einer älteren `präkanonischen´ Sprache näher, die vom (westlichen) Pāli im Zuge der Ausbreitung des Buddhismus überlagert wurde und deshalb nur mit Hilfe philologischer Methoden gewonnen werden kann. Deutlich dem Osten Indiens zugehörend, ist diese im Bereich der Lautentwicklung zwar weiter fortgeschritten als das Pāli (in der uns erhaltenen Form), im Bereich der Morphologie aber entschieden konservativer. Dieses Konglomerat von westlicher Sprache mit östlichen Einsprengseln deutet darauf hin, daß das Pāli - als eine Art Koine - eine Literatursprache ist, in der Elemente verschiedener Sprachen zusammengeflossen sind. Ähnlich wie das Sanskrit `versteinerte´ das Pāli weithin, zumal nach der schriftlichen Aufzeichnung der kanonischen Texte in der ersten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. Allerdings war das Pāli danach, wie quer durch seine ganze Geschichte, dem Druck des Sanskrit verstärkt ausgesetzt, was zur Bildung vieler `sanskritoider´ Formen geführt hat. Diese machen sich besonders in der Mahāvihāra-Tradition, der die auf uns gekommenen Pāli-Texte fast ausschließlich entstammen, geltend. Doch auch dravidische Sprachen hatten, und dies besonders im Bereich der Syntax, Einfluß auf das Pāli, wenn auch weit weniger großen als das Sanskrit. Und vornehmlich betrifft dies die Sprache der Kommentatoren, die oftmals dem dravidisch-sprachigen Süden Indiens entstammten.
Der in Pāli abgefasste Kanon des Theravāda-Buddhismus ist der einzige einer buddhistischen Schule, der vollständig in einer indischen Sprache erhalten ist. Er besteht aus drei Sektionen, in denen die Lehrreden, Texte zum Ordensrecht bzw. scholastische Systematisierungen der Lehre, der sog. Abhidharma, gesammelt sind. Eine umfangreiche Kommentarliteratur erschließt all diese Texte aus dem Blickwinkel des `orthodoxen´ Theravāda. Erstaunlich wenig Pāli-Texte wurden außerhalb des Pāli-Kanons überliefert. Dies deutet auf die große Sogkraft des Kanons hin, in den praktisch alle Texte aufgenommen wurden, die der Buddhismus während der ersten tausend Jahre seines Bestehens hervorgebracht hat.
Einen kompakten Überblick über die mittelindische Pāli-Sprache bietet der folgende Artikel:
Ralph Lilley Turner. Pali Language and Literature.
In: Encyclopaedia Britannica: A New Survey of Universal Knowledge. Volume 17: P to Plant Propagation. Chicago, London, Toronto 1959. 145-146.
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